Von intensiven Prüfungen und anderen Ungereimtheiten

….Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden… (Artikel 3 Abs. 3 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland)

Niemand? Na ja. 100 Rollstuhlfahrer im Reichstagsgebäude zu Berlin sind beispielsweise zu viel. Deshalb wurde von dort die zentrale Veranstaltung zum Welttag der Behinderten abgesagt. Darüber berichtete ich bereits auf tauss-gezwitscher.

Für die Behinderten war das besonders ärgerlich, weil sie aus Anlass diese Events auf deren anderweitige traditionelle Tagung zum UN-Tag verzichtet hatten. Um so wichtiger wäre es also gewesen, diese Veranstaltung durchzuführen statt sie ersatzlos zu canceln und mit anderem Teilnehmerkreis 2012 nachzuholen. Doch schon jetzt beugt unser Parlament vor:

…müssen wir in Kauf nehmen, dass auch im nächsten Jahr nur eine begrenzte Zahl von Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrern an derVeranstaltung im Plenarsaal teilnehmen können wird….

Die Aussperrung von gehunfähigen Menschen wird also auch für das kommende Jahr bereits vorsorglich angekündigt. Da ungeachtet dieser schlichten Unverschämtheit die Absage aber offensichtlich auf Sicherheitsbedenken beruhte, die ich gerne ernst nehme und prüfe, stellte ich einige Fragen zu diesem Thema an den Deutschen Bundestag und hakte gemäß Informationsfreiheitsgesetz (IFG) nach. Welche Sicherheitsbedenken gab es? Wurden Alternativen geprüft und bat um Akteneinsicht. Ergebnis:

Leider kann Ihrem Antrag nicht entsprochen werden. Ein Protokoll zu der Besprechung der Experten der Bundestagsverwaltung, der obersten Bauaufsicht der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und der Berliner Feuerwehr existiert nicht. Sämtliche Abstimmungen erfolgten mündlich.

Da ich ein paar Jährchen in den Bundestagsgebäuden verbracht habe und als neugieriger Mensch selbst hinterste Kellerwinkel erforschte , kenne ich die Räumlichkeiten aber nun eigentlich recht gut. Auch habe ich langjährig als ehrenamtlicher Rettungssani und Zivilschützer an vielen Katastrophenschutzübungen teilgenommen, bei denen auch Behinderte, zum Beispiel aus „brennenden“ Flugzeugen, evakuiert werden mussten.

Deshalb erstaunte mich als Nicht-Ganz-Laien diese plötzliche Absage ungemein. Nicht nur mich. Laut Extra 3 wunderten sich auch andere:

Berlins früherer Landesbehindertenbeauftragter Martin Marquard kann nicht verstehen, warum behindertenpolitische Sprecher beziehungsweise Sprecherinnen im Bundestag und der Beauftragte der Bundesregierung die blamable Absage der Veranstaltung zum Welttag der Behinderten abgenickt haben. Gegenüber kobinet verwies er auf die Berliner Bauordnung, an der er noch mitgewirkt hat: „Darin haben wir geregelt, wie zu verfahren ist, wenn mehr Rollstuhlfahrer als üblich zu einer Veranstaltung erwartet werden und ihre wie auch die Sicherheit der anderen Veranstaltungsteilnehmer mit wesentlich mehr Personal gewährleistet werden muss.“

Daraus ergeben sich nun doch weitere Fragen an den Deutschen Bundestag und an dessen Verwaltung. Denn immerhin wurde den Behinderten wie auch mir zuvor mitgeteilt:

Alle Expertinnen und Experten der Bundestagsverwaltung, der Obersten Bauaufsicht der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und die Berliner Feuerwehr haben uns nach intensiver Prüfung mitgeteilt, dass die Konferenz aus veranstaltungstechnischen Sicherheits- und Brandschutzgründen in ihrer geplanten Form nicht stattfinden darf.

Wenn es in der geplanten Form nicht möglich gewesen sein sollte: Warum dann nicht in anderer Form statt Absage? Welche Alternativen wurden geprüft? Wie sah die intensive Prüfung aus? Was wird im Bundestag unter „intensiv“ verstanden? Kippen nicht festgehaltene Bedenken der Berliner Feuerwehr tatsächlich unser Grundgesetz?

Auch die Prüfung von alternativen Veranstaltungsorten in Berlin hat leider auch kein annehmbares Ergebnis erbracht.

Aber auch hierzu gibt es offensichtlich keine Unterlagen. Welche Orte waren das? Denn mit geringem Aufwand, wie der Anbringung einer zusätzlichen Rampe und mit einigen Helfern, könnte man ohne Problem 100 Menschen in Rollis mit vielen weiteren Besuchern im Foyer des Paul-Löbe-Hauses tagen lassen, wenn es schon im Plenarsaal nicht gehen sollte.

Da die Veranstaltung in den Räumen des Deutschen Bundestages stattfinden soll, müssen wir Kapazitätsgrenzen und Sicherheitsbestimmungen beachten…..Bei der Konzeption der Veranstaltung gingen alle Planer / Experten davon aus, dass erfahrungsgemäß etwa 10 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer solcher Veranstaltungen Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer sind.

Da sich 300 Personen einschließlich 100 Rollis angemeldet hatten: Welche Kapazitätsgrenzen für Rollstuhlfahrer gibt es nun also in unserem Reichstagsgebäude und in den angrenzenden Gebäuden? 10% wären 30. Wäre das dann die feuerpolizeiliche Obergrenze? Was wäre eigentlich passiert, wenn der Papst 30 Kardinäle im Rollstuhl mitgebracht hätte? Wäre die Papstrede abgesagt worden? Oder wenn die Bevölkerung auf die Idee käme, ein paar Abgeordnete mehr im Rollstuhl zu wählen? Würde aus Sicherheitsgründen die parlamentarische Arbeit eingestellt?

Es stellen sich auch andere Fragen. Zu deren Erstaunen teilte der Bundestag in Person seiner behindertenpolitischen Sprecher aus den einzelnen Fraktionen beispielsweise mit:

Der Deutsche Behindertenrat trägt diese Entscheidung.

Bitte? Dumm ist jetzt aber nur, dass davon dem Deutschen Behindertenrat nichts bekannt ist.

Daher muss jetzt seitens des Hohen Hauses die schlichte Frage beantwortet werden: Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Darstellungen? Wie erfolgte die Einbindung des Behindertenrates?

Das Schreiben ist von allen Behindertenbeauftragten der Fraktionen und Beauftragten für die Belange behinderter Menschen unterschrieben worden (Ein – und Ausladungsschreiben des Bundestags).

Gibt es wenigstens ein Protokoll der Sitzung der Behindertenbeauftragten, bei der das Schreiben formuliert wurde oder wer hat es den Behindertenbeauftragten zur Unterzeichnung formuliert und vorgelegt? Haben die Behindertenbeauftragten nachgehakt? Lediglich einer aus diesem Kreis, MdB Seifert von der Linken, hat nach eigenen Aussagen dagegen gestimmt, die Absage aber letztlich doch unterschrieben. Hier die Stellungnahme von Ilja Seifert. Diese ist besonders pikant, da Seifert selbst auf den Rollstuhl angewiesen ist und sonst eigentlich nach außen wesentlich kämpferischer auftritt. Eine weitere Stellungnahme war von ihm nicht erhältlich.

Die Antworten auf obige Fragen sind noch offen. Irgendwie scheint die Angelegenheit aber immer peinlicher zu werden, je näher man sich mit den intensiven Prüfungen befasst. Julia Probst vom Behindertenrat sah es übrigens irgendwie kommen:

Ich bin ehrlich gesagt, nicht sehr überrascht von dieser Pannenserie des Bundestages, es hat sich einfach abgezeichnet, dass es so kommen wird.

Wenn dem so sein sollte ist die Aufarbeitung um so dringlicher. So nicht, werter Bundestag.

5 Gedanken zu „Von intensiven Prüfungen und anderen Ungereimtheiten

  1. Claus Carstensen

    Sehr geehrter Herr Tauss,

    seit ich Ihren Blog als Bookmark habe, bin ich immer wieder froh, daß Sie machen, was Sie machen.

    Ich arbeite schon viele Jahre für und mit Menschen mit Behinderungen, habe selber Behinderungen, und es ist für mich nicht überraschend, was Sie hier beschreiben.

    Auf Benefizveranstaltungen und Galas wird gerne davon geredet, daß wir auch an die ‚Sorgenkinder‘, hoppla, jetzt werden die j wenigstens schon als Menschen bezeichnet…

    … aber zwischen Reden und Handeln, da ist es eben doch noch ein weites Stück Weg.

  2. PG

    Was passiert eigentlich, wenn mal mehr als 100 Leute in den Bundestag gewählt werden sollten, die mit Rollstuhl unterwegs sind. Müssen die dann auch draußen bleiben?

  3. Pingback: Froschs Blog » Blog Archive » Im Netz aufgefischt #33

  4. kar

    Ein erbärmliches Schauspiel. Was sagt eigtl. der Bundesfinanzminister dazu, dass 100 Kollegen wegen einer fadenscheinigen Begründung wieder ausgeladen wurden?

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