Archiv für den Monat: November 2016

Statt Putin- Bashing: Russland ins Boot holen!

Impressionen Litin
Foto: Litin

Junge Russen- neue Feinde? Eine Replik auf Prof. Dr. Stratenschulte, Berlin:

Kürzlich war ich in Samara, Partnerstadt der Stadt Stuttgart an der Wolga. Grund war ein medizinischer Kongress im Rahmen eines Projekts für Kinder mit einer Lippen/ Kiefer/ Gaumenspalte (CLEFT) an der Uni Samara. Bei der Gelegenheit unterhielt ich mich auch mit Germanisten der Universität, Studierenden wie Professoren. Ich traf ausschließlich auf hochgebildete, interessante Leute. Am Abend gab es im ausverkauften Theater eine faszinierende konzertante Aufführung der „Iphigenie auf Tauris“. Ich erlebte also unvergessliche Tage der Wissenschaft und der Kultur, wie man sie selten so geballt erlebt.

Die russische Kulturnation hat faszinierende Seiten. Sie bietet nicht nur eine überwältigende Gastfreundschaft, auch noch immer Deutschen gegenüber. Aber diese Freundschaft bröckelt. Die antirussischen Kampagnen im Westen wirken und sind auch für „einfache“ Russen schwer begreifbar. Ich traf niemand, weder jüngere noch ältere Leute, die sich im privaten Gespräch als Gegner von Putin „geoutet“ hätten.

Das bringt mich zum Grund dieses Artikels. Professor Dr. Stratenschulte, Leiter einer Europäischen Akademie zu Berlin, hat sich in der Huffington Post über Russland und Putin ausgelassen.

Im Grunde hätte er es bleiben lassen können. Nichts im Beitrag lässt erkennen, was die von ihm geleitete Akademie als deren eigenen Anspruch formuliert: Nämlich länderübergreifende Diskurse „auszufechten“. Zumindest zum Thema Russland ist von der Bereitschaft zum Diskurs allerdings nichts zu verspüren. Auf Bild- Zeitungsniveau reiht der promovierte Politikwissenschaftler Plattheit an Plattheit. Also fechten wir mal.

Möglicherweise muss er irgendwelchen Drittmittelgebern einen Gefallen erweisen, die das Stadium des kalten Krieges noch nicht überwunden haben. Dies erklärte wenigstens einigermaßen das verblüffend simple Weltbild des Honorarprofessors an der FU Berlin. Was ihm zu Putin einfällt sind die üblichen Anekdoten vom Hund des Präsidenten. Jener hätte Angela Merkel, trotz warnender Geheimdienstberichte (sic!) bezüglich deren weitbekannter Hundephobie, beschnüffelt. Schon daran erkennt man also leicht den Schurkencharakter Putins. Nicht fehlen darf dann auch dessen berühmter Halbnacktritt auf einem Pferd. Man fühlt sich so also eher an eine BUNTE- Homestory denn an einen wissenschaftlich untermauerten Beitrag erinnert.

Betrachtung der Konflikte? Fehlanzeige!

Wer trotz der wabernden hochpolitischen und fundierten tiefenpsychologischen „Erkenntnisse“ immer noch weiter liest bekommt sodann eine Aneinanderreihung sämtlicher Missetaten des russischen „Despoten“ von Transnistrien bis Georgien serviert. Man erschauert. Sogar Kosovo hätte Putin nicht anerkannt. Unglaublich. Dem Politikwissenschaftler scheint in seiner europäischen Akademie entgangen zu sein, dass selbst EU- „Schurkenstaaten“ wie Spanien oder Griechenland etc. bis heute, auch aus guten Gründen, das völkerrechtlich fragwürdige Gebilde Kosovo nicht anerkannt haben. Warum sollte es also das mit Serbien traditionell befreundete Russland tun?

Eine auch nur oberflächliche Betrachtung all dieser tatsächlich vorhandenen Konflikte durch Stratenschulte sucht der Leser vergeblich. Insofern ist es müßig, sich an dieser Stelle der Mühe zu unterziehen, tiefergehende erläuternde Nachhilfe anzubieten.

Man kann sich allerdings den Hinweis nicht verkneifen, dass diese erwähnten Konflikte, exemplarisch am Beispiel Georgiens zu sehen, historisch weit in die Zeiten der alten Sowjetunion und sogar in die Zeit davor zurückreichen. Jedenfalls dauern sie bereits länger an als Putins Präsidentschaft, die erst im Jahr 2000 begann. Offensichtlich will der Politikwissenschaftler uns geneigte Leser aber nicht mit derartigen Fakten und Hintergründen belästigen.

Erwähnenswerter findet er dem gegenüber die Tatsache, dass es nun tatsächlich Menschen gibt, die diesen bösen Putin „verstehen“. Auch hier ist seine weitere Analyse aber eher dürftig. Es handelt sich dabei, nach seiner Auffassung, wohl allein um das ganze linke und das rechte Spektrum, festgemacht an den Damen Petry (AfD) und Wagenknecht (Linke). Alle, die nicht ins Weltbild passen, egal welcher sonstigen Parteizugehörigkeit, gelten ihm als autoritätsfixiert, antidemokratisch und natürlich vor allem natürlich antiamerikanisch. Wer in dieses Raster passt ist Putin-verdächtig, undemokratisch und daher mindestens nicht ganz bei Trost.

Wer gegen Freihandelsabkommen demonstriert, statt gegen die Bombardierung Aleppos, ist auch verdächtig. Dass es den Menschen in Syrien dessen ungeachtet gleichgültig sein dürfte, ob sie von den „guten Bomben“ der Terroristen und denen der USA einerseits oder den „bösen Geschossen“ Russlands und Assads andererseits zum Opfer fallen, muss sicher nicht erwähnt werden.

Aber auch hier sei daran erinnert, dass der Syrienkrieg Jahre länger dauert als die nachvollziehbare russische Einmischung auf Einladung der, ob sie nun passen oder nicht, syrischen Regierenden. Nebenbei: Der IS ist keine russische Erfindung, sondern ein Geschöpf westlicher Geheimdienste inclusive der Türkei. Auch hier bietet Stratenschulte also bestenfalls Schwarz-Weiß statt sachgerechte Information.

Dass das Völkerrecht in den letzten Jahren Soielball der US-Amerikaner war, und da muss man nicht nur den Irakkrieg bemühen, kommt ihm nicht wirklich in den Sinn. Man stelle sich aber einmal das Geschrei vor, Putin hätte irgendwann mit frei erfundenen Kriegsgründen im Stile eines Bush einen anderen Staat überfallen und besetzt. Sagen wir mal die Ukraine bis zu deren Westgrenze…..

Immerhin eine richtige Erkenntnis leitet Stratenschulte aus seiner ansonsten kruden Gedankenwelt ab, die zudem deutsche Weltkriegsschuldgefühle bemüht und sogar die russischen Opfer im 2. Weltkrieg relativiert: Konflikte lassen sich heute nicht ohne Russland lösen, stellt er bemerkenswert richtig fest. Chapeau! Richtig! So ist es. Doch genau deshalb wären Überlegungen sinnvoller, wie nun, an der Stelle politisch und ökonomisch irrer Boykotts und Putin- Bashings, Russland ins Boot geholt werden kann.

Mit NATO- Aufrüstung und dem gefährlichen aktuellen Säbelrasseln an Russlands Grenzen gelingt dies sicher nicht. „Staaten haben Interessen“, brachte es Egon Bahr kurz gefasst einmal auf den Punkt. Statt Putin in alberner Form zu dämonisieren wäre es also auch politikwissenschaftlich lohnend, sich einmal näher mit den Interessen der Militärmacht Russlands zu beschäftigen. Damit würde man auch der, gerne zu kritisierenden, Person Putin gerecht.

Die vom russischen Präsidenten vertretenen russischen Interessen sind aber mindestens so legitim wie irgendwelche Interessen der USA. Meines Erachtens sogar legitimer. Das Hirn der Anti- Putin- Paranoiker wäre dessen ungeachtet freier, beschäftigte man sich daneben auch noch mit der alten Kulturnation Russland. Siehe ganz oben. Und in diesem Sinne gestehe ich: Ein Putin und der gegenwärtige, wohltuend rationale, russische Außenminister stehen mir näher als mir ein Herr Trump oder gar unsere befreundeten NATO-Verbündeten Türkei und Saudi-Arabien nahe stehen. Russen einschließlich Putin sind nicht unsere Feinde. Und offensichtlich sieht dies in Deutschland eine rationale Bevölkerungsmehrheit ebenso. Sorry, Herr Professor!

Der Autor war Bundestagsabgeordneter von 1994 – 2009, u. a. zuständig für den Bereich des südlichen Kaukasus. Er ist Vorsitzender der gemeinnützigen West-Ost-Gesellschaft in Baden- Württemberg e.V. (WOG) http://russlandbruecke.de