„Netzgemeinde“ – wohin?

Brauchen wir für uns einen genaueren Begriff, fragte Alvar Freude vom AK Zensur bei seinem viel beachteten 27C3-Vortrag in Berlin? Netzgemeinde, Netzbürger, Nerds, Internetcommunity, Netizen, digitale Ureinwohner lauten einige der gängigsten Versuche, das zu beschreiben, was nicht richtig zu beschreiben ist. „Niemand spricht von einer Telefon Community“, erteilte daher zu Recht Martin Haase der Debatte eine Absage.

Tatsächlich geht es auch nicht um solche Begriffsfindungen, sondern um Inhalte. Internetnutzer sind keine „verschworene Gemeinschaft“. Sie sind so heterogen wie die Gesellschaft selbst. Das Netz ist auch ein Abbild der Gesellschaft – im Positiven wie im Negativen. Deshalb stellt sich statt der Frage nach Eigenbezeichnungen das drängende Problem, wer im Netz (noch oder neu) bereit ist, gegen dessen zunehmende Überwachung und die Vereinnahmung durch Politik und Wirtschaft zu kämpfen. Eine Kraft KÖNNTE der Chaos Computer Club sein. Doch will er es?

Politikberatung statt Politik, scheint die neueste Devise zu lauten. Selbst die Frage, ob die „Piratenpartei“ beim „unabhängigen“ CCC einen Stand am Rande des Kongresses haben sollte, war umstritten. Politische Unabhängigkeit wird so mit Neutralität verwechselt. Die Forderung nach einer (Re-)Politisierung des CCC wurde von maßgeblichen Sprechern des Clubs, wie etwas Frank Rieger, nicht ernsthaft aufgegriffen, sondern via twitter mit alberner Häme begleitet. Unter Politisierung konnte er sich gerade noch Parteitagszoff vorstellen.

Dabei sind die Fragen ernsterer Natur. Braucht der CCC Verbündete oder gar einen politischen Arm, wie beispielsweise die Piratenpartei, oder will er sich mit der bequemen Rolle einer „neutralen“ Politikberatungsstelle begnügen? Dies allerdings ist er heute durchaus. Längst vorbei sind die Zeiten, als in den neunziger Jahren anlässlich Rüttger‘scher  „Multimediagesetze“ im Bonner Bundeshaus allein bei der Vorstellung , dass „Hacker“ die heiligen Hallen betreten könnten, fast Räume desinfiziert wurden.

Heute würde wohl jede Partei im Deutschen Bundestag den CCC auf ein Anhörungsticket nehmen, sollte es gerade zum Thema passen und ein modernistisches Signal an die umworbene Netzgemeinde sein. Dies hat den Club offensichtlich politisch satt und selbstgefällig gemacht. Vorbei die Zeit, als man in Nacht- und Nebelaktionen die „Datenschleuder“ in MdB-Postfächer legte. Vorbei die Zeit, als man der SPD noch kurz und knapp mitteilte, wegen der starren Position zu Zensursula nicht mehr als Gesprächspartner zur Verfügung zu stehen.

Angesichts des „verbindlichen“ Herrn Innenminister de Maiziére mag man sich solche möglichen Konsequenzen wohl gar nicht mehr vorzustellen. Schlimmstenfalls bescheinigt der CCC beim hochoffiziellen Jahresrückblick unserem Überwachungsminister, ein „Troll“ zu sein. Der Saal lacht. Ein Troll? Darunter versteht man jene mehr oder weniger sympathischen Zeitgenossen, die in Internetforen herumtrollen, provozieren oder pubertär eben nur ein wenig spielen wollen.

Was aber hat ein Troll aber mit einem Innenminister zu tun, der knallhart an Zensursula festhält, mit Cencilia Malmström Netzsperren und den Stockholm-Überwachungsstaat vorantreibt, die Vorratsdatenspeicherung plus fordert, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) dem Bundeskriminalamt unterordnen will und alle Vorbereitungen trifft, Internetzugänge nur noch via ePersonalausweis zugänglich zu machen?

Mit einem solchen Minister setzt man sich doch gerne an einen Tisch. Offensichtlich schmecken die Plätzchen im Innenministerium. Was dort aber in den Kaffee geschüttet wird, um CCC-Vertretern offensichtlich den Eindruck zu vermitteln, plötzlich „Gehör“ zu finden und unmittelbar der schwarzen Seite der Macht erfolgreich Einsicht in die Notwendigkeit der Wahrung von Bürgerrechten zu vermitteln, bleibt deren Geheimnis.

Angesichts der medialen Beachtung des 27C3 hätte aus dem Berliner Congresscentrum ein starkes Signal für Bürgerrechte ausgehen können: Schluss mit Dialog mit diesem Minister, der sich von Stasi 2.0-Schäuble und Zensursula bestenfalls in der Frisur und im scharrenden Mielke-Ton unterscheidet.

Aber statt dessen wollte man sich Politik wie auch ZDF & Co wohl medial „nett“ präsentieren. Eine rührend einfältige Journalistin des CDU-Staatssenders begeisterte sich gar über die vielen gut gekleideten Hacker vor Ort. Manche trugen zum Erstaunen der Dame sogar Krawatte statt Pickel. Das hatte sie sich offensichtlich ganz anders vorgestellt. Und nicht nur sie.

Welchen Weg nimmt der Club?

Von pubertierenden Anonymous- Aktivisten distanzierte man sich vorsichtshalber, statt auch nur Verständnis zu heucheln, dass sich junge Menschen angesichts der derzeitigen freiheitsbedrohenden Entwicklung, wenn auch offensichtlich dilettantisch, verzweifelt zu wehren suchen. Sie erhielten vom erhöhten CCC-Podest arrogante oberlehrerhafte Belehrungen statt Orientierung oder gar Anleitung, wie man es besser machten könnte.

Wenigstens Chaos-Altmeister Andy Müller-Maguhn machte sich in einem längeren Beitrag noch „Sorgen um die Informationsfreiheit“ im Internet. Dies lässt hoffen, dass man sich gegen die Angst der Riegers „vor dem Schaum vorm Maul“ vielleicht doch wieder zu einer gesellschaftlichen Kraft entwickeln könnte, die eben nicht nur „Sorge“ äußert, sondern mit politischen Verbündeten aus dem Bürgerrechtsbereich auch wieder politisch handeln will.

Den de Maiziére-weichgespülten CCC des Jahres 2010 jedoch braucht bestenfalls eine freakige Bastelgruppe als Plattform für jährliche Hobbytreffs mit Abschlussparty. Nicht aber eine von Überwachung bedrohte freie Gesellschaft und deren „Netzgemeinde.“ Egal wie sie sich dann nennt.

51 Gedanken zu „„Netzgemeinde“ – wohin?

  1. ALu

    Ach, liebe Piraten, wäre es nicht schön, wenn der CC die Kampagnen für euch machen würde… wie früher die Sache mit dem Fingerabdruck?

    Jeder kennt Frank und Fefe, aber wer kennt einen Piraten – außer Ihnen, Herr Tauss? Und wer wählt schon gerne Unbekannte mit lustigen Plakaten, aber ohne Aushängeschilder? Wo sind eure echten Märtyrer, eure Idealisten, eure Propagandisten, eure Blogger, eure Identifikationsfiguren? Die Pirate Bay-Leute in den Niederlanden zählen nicht.

    Anmerkung tauss: Nacktscanner, ACTA, INDECT, 108e-Aktion (Abgeordnetenbestechung), Wikileaks-Spiegelung – um nur ein paar Kampagnen zu nennen….

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